Herausforderungen in der beruflichen Vorsorge
Mit der Reform der beruflichen Vorsorge sollen langjährige Probleme gelöst werden. Die Chance einer echten Modernisierung wurde jedoch verpasst.
Mit einer umfassenden Pensionskassenreform wollte Bundesrat Alain Berset die berufliche Vorsorge zukunftsfähig machen. Aufgrund der wiederholt gescheiterten Versuche, dem Stimmvolk eine mehrheitsfähige Lösung zu unterbreiten, ging Berset einen neuen Weg: Er erteilte den Sozialpartnern den Auftrag, eine Lösung für die drängendsten Probleme der beruflichen Vorsorge zu erarbeiten. Dies in der Überzeugung, was den Sozialpartnern als Träger und Finanzierer der beruflichen Vorsorge recht sein sollte, müsste danach auch dem Parlament billig sein. Nach intensiven Verhandlungen einigten sich der Schweizerische Arbeitgeberverband, Travail.Suisse und der Schweizerische Gewerkschaftsbund – für manche Kreise überraschend – tatsächlich auf eine Lösung. Weil dem Schweizerischen Gewerbeverband bereits dieser Kompromiss kostenmässig zu weit ging, blieb er abseits. Allerdings wollte sich das Parlament seinerseits nicht damit begnügen, den Sozialpartnern die Bühne zu überlassen, dieser Sozialpartnerkompromiss hatte es in den eidgenössischen Räten entsprechend schwierig. In zähen Debatten wurde der Sozialpartnerkompromiss in Bundesbern mit weiteren Elementen angereichert und im März 2023 verabschiedet. Umgehend wurde von linker Seite und den Gewerkschaften das Referendum angekündigt, und bis Ende Juni 2023 dürfte dieses auch rechtsverbindlich eingereicht werden. Auch auf bürgerlicher Seite weht der Vorlage teilweise eine steife Brise entgegen, so etwa von den Bauern und aus dem Gewerbe, wenn auch aus anderen (Kosten-)Gründen. Somit wird voraussichtlich im Frühjahr 2024 das Schweizer Stimmvolk über die Reform der beruflichen Vorsorge entscheiden. Das ist gut so, denn die Revision hat Stärken, aber auch offensichtliche Schwächen.
Zentraler Punkt ist die Senkung des Umwandlungssatzes, der als prozentualer Faktor zum Zeitpunkt der Pensionierung das Sparkapital in eine lebenslängliche jährliche Altersrente umwandelt. Die steigende Lebenserwartung, verbunden mit einem längeren Rentenbezug, verdeutlicht, dass der Umwandlungssatz von zurzeit 6,8 Prozent auf 6,0 Prozent gesenkt werden muss. Ohne diese Reduktion wird mit jeder weiteren Pensionierung ein Teil des Kapitals der noch aktiven, beitragszahlenden Versicherten kalkulatorisch «angeknabbert». Es handelt sich in der Sprache der Experten um eine sogenannte «Quersubventionierung» von Jung zu Alt. Auch wenn aufgrund der Zinsenwende das Problem etwas entschärft erscheint, bleibt es im Grundsatz bestehen. Mit der Reduktion des Mindestumwandlungssatzes sinken aber auch die Renten derjenigen Versicherten um rund 13 Prozent, die nur über eine minimale Lösung gemäss dem gesetzlichen Minimum der beruflichen Vorsorge verfügen. Wer dagegen auch überobligatorisches Kapital angespart hat, ist zumindest nicht direkt betroffen. Allerdings wird auch bei diesen Versicherten überobligatorisches Kapital an die garantierte Mindestleistung angerechnet, was den Kreis der mindestens indirekt Betroffenen wiederum deutlich erhöht. Seit Beginn der Debatte herrschte in Bundesbern über alle Parteien hinweg Konsens, dass eine Rentensenkung für Versicherte mit kleinen Renten abgefedert werden muss. Eine Kompensation soll mit langfristiger Wirkung mittels Massnahmen wie einer Anpassung der prozentualen Lohnbeiträge und der Ausweitung desjenigen Anteils des Lohnes, der versichert wird, erfolgen. Letzteres soll auch dazu führen, dass Teilzeiterwerbstätige längerfristig mit besseren Renten rechnen können.
Das entsprechende Instrument dafür ist die Anpassung des «Koordinationsabzuges». Damit die Leistungen der ersten Säule (AHV) und zweiten Säule (Pensionskasse) koordiniert sind, reduziert sich der versicherte Lohn jeweils um den gesetzlichen Koordinationsabzug von aktuell 25'725 Franken. Die Koordination der beiden Sozialversicherungen führt dazu, dass in der zweiten Säule nicht der ganze Lohn versichert ist. Es werden Lohnteile, die bereits in der AHV versichert sind, mit dem Koordinationsabzug abgezogen. Die Leistungen der beruflichen Vorsorge sollen gemäss dem geltenden Dreisäulenkonzept im Rahmen der obligatorisch zu versichernden Einkommen bis zur Höhe von rund 88’000 Franken zusammen mit den Renten der AHV den gewohnten Lebensstandard ermöglichen, konkret sollen sie rund 60 Prozent des letzten Lohnes ausmachen.
Im politischen Hickhack spalteten sich die Vorstellungen zur Höhe des Koordinationsabzuges. Schlussendlich wich man im letzten Moment vom Antrag des Bundesrats, der auf dem Sozialpartnerkompromiss basierte, deutlich ab und einigte sich mehrheitlich auf einen flexiblen Wert von 20 Prozent des Jahreslohnes. Der tiefere und individuelle Wert ermöglicht, dass Personen, die kleinere Einkommen haben oder Teilzeit arbeiten, obligatorisch mehr Geld für die berufliche Vorsorge sparen. Eine Eintrittsschwelle soll weiterhin bestehen bleiben, jedoch leicht tiefer auf knapp 20'000 Franken festgesetzt. Das heisst, künftig sollen Einkommen ab rund 20'000 Franken in der Pensionskasse versichert werden müssen.
Eine neue Staffelung der gesetzlichen Altersgutschriften soll den Kapitalbildungsprozess in der beruflichen Vorsorge vereinfachen. Unter dem Strich resultieren aus diesen Entscheidungen massiv höhere Kosten für viele KMU und deren Mitarbeitende. Gerade bei tiefen Einkommen würden sich die heutigen Lohnbeiträge teilweise vervielfachen, je hälftig zu finanzieren durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Diesen stehen zwar langfristig höhere Leistungen gegenüber, die jedoch immer noch bescheiden ausfallen werden. Aufgrund der entstehenden Renteneinbussen für ältere Erwerbstätige wurde zudem eine 15 Jahre dauernde Übergangsgeneration definiert, welche mit Zuschüssen einen Ausgleich zum Erhalt des heutigen Rentenniveaus erhalten. Während das Parlament beim Koordinationsabzug auf einen Schlag weit über den Kompromiss der Sozialpartner hinausging und dabei auch die deutlichen Warnungen des Gewerbes und der Bauern in den Wind schlug, wurde für die sogenannte Übergangsgeneration (Versicherte im Alter ab 50 Jahren) eine deutlich bescheidenere Lösung gewählt. Wenig überraschend kritisieren denn auch die Gewerkschaften, dass es entgegen allen Versprechungen nun doch auch zu Renteneinbussen für gewisse Versicherte mit tiefen Renten in dieser Alterskategorie kommt. Künftigen Rentenbeziehenden in dieser Alterskategorie, die nicht oder nicht ausreichend von solchen Besitzstand-Zuschüssen profitieren, bleibt bei der Annahme der Vorlage einzig die Hoffnung auf eine höhere Verzinsung der Altersguthaben in den kommenden Jahren bis zu ihrer baldigen Pensionierung.
Unter dem Strich hat das Parlament mit der Vorlage die gesteckten Ziele mindestens teilweise verfehlt. So führt die Senkung des Mindestumwandlungssatzes zwar theoretisch zur beabsichtigten Reduktion der Quersubventionierung von Jung zu Alt, um sie aber durch den Ausbau des Obligatoriums auf einer immer noch falschen Basis durch die schlagartige Senkung des Koordinationsabzuges gleich wieder zu erhöhen. Unter dem Strich dürfte damit für die Verbesserung der Generationengerechtigkeit tatsächlich wenig bleiben. Eine ausgewogene Balance zwischen den Mehrkosten für Arbeitgeber und Arbeitnehmer und wirksamen Verbesserungen insbesondere für Teilzeitbeschäftigte wurde verpasst. Weitsichtigere Vorschläge waren diesbezüglich (noch) nicht mehrheitsfähig. In der Realität wird für die meisten Teilzeitbeschäftigten eine faire Altersvorsorge auch in Zukunft stattdessen vom Goodwill ihrer Arbeitgeber abhängen, freiwillige adäquate überobligatorische Vorsorgelösungen anzubieten. Es wird sich angesichts von Licht und Schatten in dieser Vorlage am Abstimmungstag weisen, ob die in Bundesbern geplanten Massnahmen vielen Erwerbstätigen als zusätzlicher Nutzen schmackhaft gemacht werden können. Zweifel sind angebracht.
Und was halten die Pensionskassen von der Reform? Die Meinungen klaffen, wie so oft, auch hier von Kasse zu Kasse auseinander. Der Pensionskassenverband ASIP schrieb im März 2023 in einer ersten Stellungnahme: «Der ASIP-Vorstand nimmt die Ergebnisse der Schlussabstimmungen des Parlamentes zur BVG-Reform zur Kenntnis. Eine abschliessende Gesamtwürdigung erfolgt nach einer Konsultation bei den Mitgliedern. Unter dem Strich hat die beschlossene Fassung aus Sicht des ASIP-Vorstands jedoch mehr Nach- als Vorteile.»
Das schweizerische Stimmvolk entscheidet letztlich, ob das in die Jahre gekommene Pensionskassengesetz durch die beschlossenen Regelungen angepasst wird. Wird das Volksmehr erreicht, werden die Änderungen in rund 20 Jahren Früchte zeigen. Klar ist, dass der richtige Zeitpunkt, die berufliche Vorsorge zukunftsgerichtet und nachhaltig anzupassen, verpasst wurde.